In jeder Stadt gibt es Straßen, Plätze, Gebäude, Winkel und Ecken die ganz besonders sind. Viele dieser speziellen Orte findet man in den einschlägigen touristischen Hilfestellungen, aber einige nicht. In dieser Rubrik soll es um Orte in Halle gehen, die eine besondere Ausstrahlung besitzen. Einige dieser Orte stehen im Stadtführer, aber die meisten nicht.
Direkt am Reileck, dort wo die Händelstraße auf die Bernburger Straße trifft, steht ein kleines, unspektakuläres Glashäuschen. Das war einmal der Kiosk am Reileck. Dort kauften die Bewohner des Viertels ihre Zeitungen und Magazine, Fußballsammelbildchen und Yugioh-Karten, manchmal auch Kippen und Bier. Der Kioskbetreiber, von aller Welt Hansi genannt, war ein seltsamer aber angenehmer Mensch, dessen hervorstechendste Eigenschaft seine Liebe zum Spiel der Könige war. Gern und häufig lud er seine Kundschaft zum Schachspiel an einen direkt vor dem Kiosk stehenden, wackeligen Bistrotisch ein. Viele lehnten ab, andere kamen regelmäßig und forderten ihn heraus. Mit manchen besprach er stundenlang die Schachaufgaben aus den Wochenendbeilagen der Zeitungen, die er verkaufte. Seine Spielpartner waren so unterschiedlich wie die Bewohner der Gegend rund ums Reileck:der Akademiker im Mantel, der autonome Schluffi, der kleine Stumpenmann, der mit seiner Zigarre das ganze Reileck verpestete, ein übergewichtiger vietnamesischer Junge, eine junge Mutter mit Kind im Tragetuch. Egal für wen, die Figuren wurden bei jedem Wetter aufgebaut.
Gesprochen hat man mit Hansi eher wenig und oft nur das Nötigste. Guten Tag, schönes Wetter heute, stimmt so. Und dennoch war dieser Kiosk eine Stätte der Kommunikation im Viertel. Hier traf man zufällig die schöne Nachbarin, las die Aushänge über entfleuchte Haustiere, stritt mit Fremden über die aktuelle Schlagzeile der Bildzeitung oder kommentierte einfach das unblutige Gemetzel auf dem Brett vorm Kiosk. Unspektakuläre Alltäglichkeiten die nicht weiter ins Gewicht fielen. Bis Hansi dicht machte. Eine fast verschwindend kleine, unordentliche Notiz im Fenster des Kiosk verkündete 2009 das nahende Ende. Und schon in diesem Moment, als alles noch war wie eh und je, zeichnete sich ab, dass etwas Fehlen, wahrscheinlich unwiederbringlich verloren sein würde. Ein trauriges Kiezverlustgefühl. Wenig später schloss Hansi tatsächlich für immer ab. Ein Obdachloser schlief noch eine Zeit lang unter dem schmalen Überdach des Glashäuschens und verrichtete seine Notdurft in der dunklen Ecke dahinter. Auch er verschwand irgendwann und es wurde still um diesen Ort, der wohl einmalig in der Stadt war.
Inzwischen wird der Kiosk wieder betrieben. Junge Menschen veranstalten dort gelegentlich kleine, sympathische Ausstellungen, manchmal auch Konzerte oder künstlerisch gemeinte Aktionen. Der Kiosk, der jetzt hr. fleischer heißt, soll wieder ein Ort der Kommunikation werden, sagen die jungen Menschen. Bleibt zu hoffen, dass es gelingt. Im Winter ist der Kiosk geschlossen, aber im Frühling geht es wieder los. Dann ist übrigens auch Hansi, oder jetzt besser Herr Fleischer, hin und wieder vor Ort und lässt sich zu einer Partie Schach herausfordern.
Tram 3,6,7,12, Haltestelle Reileck
[wpmaps company=“Kiosk am Reileck hr.fleischer e.V.“ street=“Händelstr. 1a“ city=“Halle“]